Interview mit der Buchautorin und Fachärztin für Neurologie Dr. Croos-Müller
Weg mit Angst – das ist der Wunsch Vieler und durch die aktuellen Ereignisse im Jahr 2020 beschäftigen sich noch mehr Menschen mit der Thematik. Frau Dr. Croos-Müller, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren im Rahmen ihrer Arbeit als Ärztin für Neurologie und Psychotherapie mit diesem Themenkreis und können uns sicher wertvolle Tipps geben, wie wir am besten mit der Angst umgehen.
Angst ist unangenehm, sie lähmt uns häufig und am liebsten leben wir natürlich in einer angstfreien Umgebung. Leider ist das nicht immer möglich, wie wir in der aktuellen Zeit sehen können. Wie entstehen Ängste und haben sie auch einen Nutzen für uns?
Dr. Croos-Müller: Angst ist eine absolut normale Reaktion auf eine Bedrohung und somit in bestimmten Situationen auch unbedingt überlebenswichtig. Über unsere Sinne und unseren Körper erhält das Gehirn ständig Informationen über Außenreize, die es analysiert und dem es ein Gefühl zuordnet. Daraus entsteht dann eine Reaktionsentscheidung: Kampf oder Flucht. Dieser neurophysiologische Vorgang geschieht vorwiegend in der Region des sogenannten Mandelkerns. Und in Bruchteilen von Sekunden werden die dafür notwendigen Neurotransmitter und Hormone gebildet, um Herz, Kreislauf und Muskulatur zu aktivieren und der Gefahr – zum Beispiel einer Giftschlange – aus dem Weg zu gehen oder sie zu verscheuchen. Das ist die wertvolle Angst. Berechtigte Angst muss respektiert werden.
Wenn eine Bedrohung allerdings erstmalig auftritt und unser Gehirn dazu noch keine Erfahrungswerte hat oder die Bedrohung diffus oder übermächtig ist, fühlen wir uns ratlos und ausgeliefert. Dann werden wir von Angst überflutet, fühlen uns gelähmt und reagieren falsch.
Es scheint, dass die einen Menschen ängstlicher sind, während die anderen Vieles auf die leichte Schulter nehmen. Woran liegt das, gibt es da sogar genetische Unterschiede und kann man dem als grundsätzlich eher ängstlicher Mensch entgegenwirken?
Dr. Croos-Müller: Ein bestimmtes Quantum Angst oder Mut wird uns tatsächlich bereits in die Wiege gelegt. Aber auch Eltern und Bezugspersonen haben Einfluss: zum einen durch ihren eigenen Lebensmut, aber auch durch die sogenannte Wagniserziehung – den Kindern Freiräume für kleine Mutproben zu gewähren, sie zu ermutigen und zu loben. Sind die Eltern dagegen grundsätzliche „Angsthasen“ und in ihrem Verhalten übermäßig beschützend, werden auch die Kinder diese Verhaltensmuster zeigen. Für solche selbstunsicheren und schüchternen Kinder gibt es allerdings gute Mut-Angebote, zum Beispiel die sogenannte Erlebnispädagogik oder Waldpädagogik. Und für Erwachsene gibt es erst recht jede Menge wirkungsvolle Mut-Trainings. Wobei übrigens aus neurologischer und ärztlicher Sicht für mich Bungee-Springen und Co. definitiv nicht dazugehören.
Gibt es aus Ihrer Sicht Menschen, die komplett angstfrei sind?
Dr. Croos-Müller: Angst gehört zu den sogenannten Basis-Emotionen – das heißt jedes Lebewesen kennt Angst. Durch bestimmte psychomentale Techniken lässt sich Angst aber bändigen. Kernspintomographische Untersuchungen bei meditierenden buddhistischen Mönchen zeigen eine Beruhigung der Angstzentren im Gehirn. Gebändigte Angst ist ein erstrebenswerter Zustand.
Wir kennen ja den Begriff der „German Angst“. Sind die Deutschen aus Ihrer Sicht „anders“ ängstlich als andere Nationen?
Dr. Croos-Müller: Die Deutschen sind grundsätzlich vorsichtiger und mehr auf Sicherheit bedacht, was sich auch in den vielen Verträgen der Versicherungsgesellschaften niederschlägt. Die Deutschen haben eine gewisse Neigung zur Besorgnis. Der Begriff der German Angst scheint aber überholt zu sein. Mehrere Umfragen in der jetzigen Corona-Krisensituation haben erstaunlicherweise gezeigt, dass die Deutschen relativ gelassen und zuversichtlich mit der Pandemie umgehen und nicht überängstlich sind.
Haben Sie den Eindruck, dass die Menschen heute ängstlicher sind als früher? Und woran könnte das liegen?
Dr. Croos-Müller: Ich beobachte mehr Angst- und Panikerkrankungen als früher, auch bei Männern. Der Grund ist aber meist eine lange Überforderung und schließlich komplette Erschöpfung im Sinne eines Burnout. Aber auch die ständigen Berichte über Katastrophen versetzen das Gehirn in eine anhaltende Alarmbereitschaft mit dem unschönen Ergebnis einer latenten Dauer- Ängstlichkeit. Und Angst hat eine Eigendynamik: Bereits bestehende Angst weitet sich kontinuierlich auf weitere soziale Bereiche aus – auch eine Art Infektion.
Wie wirkt sich Angst konkret auf die Gesundheit aus?
Dr. Croos-Müller: Ängstliche Angespanntheit bedeutet einen beständigen hohen Stresslevel für den gesamten Organismus mit einer übermäßigen Produktion von Stresshormonen. Der Blutdruck steigt und das Herz wird belastet. Sexualhormone werden reduziert. Die Hirndurchblutung ist herabgesetzt – ein ängstliches Gehirn denkt wesentlich schlechter. Angst und Depression begünstigen einander, Alterungsprozesse werden beschleunigt und auch die Begünstigung einer Demenz wird diskutiert.
Aber vor allem: unsere Immunabwehr wird geschwächt und die Neigung zu Entzündungen steigt. Der wichtigste Grund überhaupt, in Pandemiezeiten der schädlichen Angst die Türe vor der Nase zuzuhauen und sich zu entängstigen.
Wenn man vor etwas Angst hat, versucht man, die auslösende Situation zu vermeiden. Zum einen ist dies allerdings nicht immer möglich und zum anderen gibt es ja sogar den therapeutischen Ansatz, sich angstmachenden Situationen besonders zu exponieren und damit sozusagen die innere Angst zu überwinden. Was hilft Ihrer Meinung nach besser: Vermeidung oder Exposition?
Dr. Croos-Müller: Angst ist ein wirkliches Gefängnis und mit der Vermeidung einer angstauslösenden Situation wird der Gefängnisaufenthalt immer länger. Die Lebensqualität kann dabei gegen null gehen. Sich seiner Angst zu stellen, Techniken zu entwickeln, mit ihr fertig zu werden, ist in jedem Fall lohnend. Meine Erfahrung ist, dass dies letztendlich auch immer gelingt. Die Freude und der Stolz über diese Befreiung sind ein mächtiges Lebensgefühl, die Anstrengung dafür lohnt sich.
Insgesamt sollte in unserer Gesellschaft mehr Wert gelegt werden auf die Entwicklung einer gewissen Robustheit in Krisensituationen. Die WHO spricht von der Schaffung sogenannter resilienter Communities.
Angst ist auf der einen Seite hilfreich, sie wird aber zur Last, wenn sie unsere Gedanken dauerhaft einnimmt, wenn sie körperlich zu spüren ist und uns sozusagen überfällt. Nicht umsonst hat der Volksmund Ausdrücke wie „die Angst lähmt mich“ oder „nimmt mir die Luft zum Atmen“. Was also kann man dagegen tun, von dem Gefühl völlig vereinnahmt zu werden?
Dr. Croos-Müller: Ein offener Umgang mit einer Angststörung und zumindest anfangs eine professionelle Begleitung zusammen mit einem eigenen konsequenten Training sind das beste Mittel, um aus dem Angstschema, das sich im Gehirn als Muster gebildet hat, herauszufinden.
Es gibt ja einige Medikamente, die beispielsweise bei Panikattacken helfen. Ist das das Mittel der Wahl oder gibt es bessere Strategien?
Dr. Croos-Müller: Als Ärztin schätze ich in Ausnahmesituationen wie zum Beispiel einer Panikattacke durchaus als erste Hilfe den kurzzeitigen Einsatz eines entsprechenden Medikaments. Eine Dauerlösung ist das aber auf gar keinen Fall aufgrund der Nebenwirkungen bis hin zur Abhängigkeit. Die beste Strategie ist es, in Selbstwirksamkeit zu kommen durch psychomentales Training. Der großartige Nervenarzt Viktor Frankl hat es treffend formuliert: „muss man sich denn alles von sich gefallen lassen? Kann man nicht stärker sein als seine Angst?“ Ja, das kann man. Aus Erfahrung weiß ich, dass dies immer möglich ist mit einem regelmäßigen Psycho-Work-out.
Gibt es kleine Übungen, die Körper, Verstand und Psyche anregen, unseren Mut und unsere Resilienz wachsen lassen?
Dr. Croos-Müller: Ich arbeite schon lange mit kleinen unauffälligen Körperimpulsen aus dem Bereich der Körperpsychotherapie. Stärkung über den Körper geht immer. Und die Wirkung ist beeindruckend. Lustvolle Körperbewegungen führen zur Produktion antidepressiver Hormone und Neurotransmitter, die sofort Wirkung zeigen. Die Übungen mehrfach am Tag immer wieder mal für 30 Sekunden – das verändert allmählich die Strukturen des Gehirns in Richtung nachhaltige Lebensbewältigung.
Weg mit der Angst – Effiziente Übungen*, schnell und einfach umzusetzen
- Ich kann zum Beispiel über meine äußere Haltung meine innere Haltung beeinflussen: den Kopf hoch zu nehmen, aufrecht zu stehen, die Brust ein wenig heraus zu strecken, die Hände in die Hüften zu stemmen – das sind winzige Körperinputs, die sofort zu einer psychischen Ermutigung führen.
- Auch die Vorgehensweise – mein Auftreten im wahrsten Sinn des Wortes – kann mich ermutigen: *breitbeiniges Gehen mit energischem und geräuschvollem Aufsetzen der Füße stärkt sofort die innere Gemütsverfassung. Diese Trampeltier-Gangart mag vielleicht nicht attraktiv wirken und sich im ersten Moment ungewohnt anfühlen, bringt aber einen enormen Mut-Zuwachs.
- Die Hand auf das Herz zu legen hat auf die darunterliegenden Nervenverbindungen zwischen Herz und Gehirn eine beruhigende Wirkung. Dabei bewusst ruhig wie mit einem dicken Strohhalm einzuatmen und beim Ausatmen abzuschnauben wie ein Pferd verstärkt den Effekt und bewirkt eine bessere Sauerstoffversorgung für die Lunge und das Gehirn (besonders wenn man längere Zeit mit einer Atemschutzmaske unterwegs war).
- Mich morgens freundlich im Spiegel anzuschauen mit einem Daumen-hoch oder Victory Zeichen zu meinem Spiegelbild* ist nicht nur amüsant – Lachen ist tatsächlich gesund – sondern stärkt die eigene Zuversicht und ist eine Geste der Ermutigung.
- Und eine meiner Lieblingsübungen: Schulterwurf. Schwungvoll im Wechsel den rechten Arm von vorne über die rechte Schulter schwingen und dann den linken Arm über die linke Schulter – eine Aufwärtsbewegung, die Körper und Geist lieben. Ballast wird dabei gedanklich nach hinten abgeworfen.
* Alle diese Übungen stammen aus der BODY 2 BRAIN CCM® Methode. Dazu gibt es sogar eine kostenlose App: Body2Brain.
Über die Expertin Dr. Croos-Müller
Dr. Claudia Croos-Müller ist Fachärztin für Neurologie und Psychotherapie und führt nach Jahren als Leitende Ärztin des Bereich Neurologie am RoMed Klinikum in Rosenheim eine eigene Praxis. Bekannt wurde sie durch zahlreiche Bücher, z.B. aus der Reihe der „Kleinen Überlebensbücher“, mit 7 verschiedenen Themen, wie „Kopf hoch“, „Nur Mut“, „Schlaf gut“. Sie hat eine neuartige Methode kreiert, BODY 2 BRAIN CCM®, die mit einfachen Alltagsübungen hilft, Selbstwirksamkeit zu manifestieren und damit Beschwerden unter Kontrolle zu bekommen.
Dieses Interview hat mir richtig etwas gebracht. Generell bin ich so im Alltag kein ängstlicher Mensch, ja, ich behaupte sogar, dass ich im Job mutig, weil stark lösungs-orientiert bin. Aber im privaten Bereich hapert es gewaltig. Es ist doch interessant, wie diese beiden Bereiche so auseinander driften können. Danke für die Tipps mit den Übungen, einige praktizierte ich schon, ohne mir direkt von dieser Wirkung bewusst gewesen zu sein, aber manches ist mir neu und wird ins Repertoire aufgenommen.